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rüh am nächsten Morgen brachen unsere Reisenden auf. Kodar, der mit den Tränen kämpfte, erklärte ihnen, sein Väterchen sei in der Nacht gestorben, das
Wiedersehen mit dem alten Freund sei ihm also nicht
mehr vergönnt gewesen. Sauerampfer und Trix sprachen
ihm ihr Beileid aus. Ian und Hallenberry verstanden von
alldem kein Wort, doch Trix wollte sie aus irgendeinem
Grund nicht in die abenteuerliche Geschichte der letzten
Nacht einweihen.
Nachdem sie das Dorf hinter sich gelassen hatten –
wie immer wussten die Bewohner natürlich schon, was
geschehen war –, gelangten sie wieder auf eine ordentliche Straße. Nach einem Blick auf eine Karte erklärte
Sauerampfer, sie durchquerten jetzt die Ländereien des
Barons Ismund. Als Trix scharf nachdachte, erinnerte er
sich, dass die Vorfahren des Barons Adlige aus Samarschan waren, die nach dem verlorenen Krieg lieber zu
Gefolgsleuten König Marcels des Vernünftigen geworden waren, statt voller Schmach in den glutheißen Gebieten ihrer Heimat hocken zu bleiben. Ian, der sehr stolz
auf seine Ausbildung im Waisenhaus war, wusste zu berichten, dass das Baronat für seine Rennpferde, Hunderennen, Hahnenkämpfe, Kampffische, Glücksspiele und
Gladiatorenkämpfe (aber nicht auf Leben und Tod, denn
aus Liebe zu seiner zweiten Frau hatte Marcel der Überraschende es allen Gladiatoren verboten, sich gegenseitig
in der Arena umzubringen) berühmt war. Sauerampfer
konnte ergänzen, dass die Magie im Reich Ismunds nur
schwach entwickelt war und es keine namhaften Zauberer hervorgebracht hatte. Hallenberry wollte wissen, ob die Untertanen des Barons noch die berühmte Samarschaner Halva herstellten oder ob sie das inzwischen verlernt hatten.
Im Baronat lebten zwar etliche Samarschaner, diese unterschieden sich heute jedoch kaum noch von anderen Bürgern des Königreichs. Das bodenlange Gewand war Hemd und Hosen gewichen, die Frauen versteckten ihren Mund nicht mehr unter einem festen Verband (die Samarschaner meinten, eine anständige Frau dürfe ihren Mund keinem Fremden zeigen; wahrscheinlich sorgten die Männer auf diese Weise aber nur dafür, dass ihre Frauen allen Feierlichkeiten fernblieben und nicht in Gegenwart Dritter an ihnen herumnörgelten). Man hielt Hühner, obwohl die Samarschaner sie früher als schmutzige Tiere verachtet hatten, denn Hühner fraßen Würmer, und Würmer fraßen Tote, weshalb derjenige, der ein Huhn aß, seine eigenen Vorfahren verspeiste. Das Einzige, was die Herkunft dieser Leute verriet, waren die etwas dunklere Haut und die leicht schrägen Augen.
Da es genügend Dörfer gab, konnten unsere Reisenden drei Nächte hintereinander in Schenken schlafen. Am vierten Tag jedoch, als sie in der Ferne schon die Türme Gibeas, der Hauptstadt des Baronats, sahen, erlebten sie eine schlimme Überraschung.
Zunächst fing es an zu regnen, ein hässlicher Herbstregen, der sich für den allzu langen Altweibersommer rächte. Die Straßen weichten im Nu auf. Der edle Hengst des Zauberers stellte sich unvermutet als Trampeltier heraus: Er rutschte aus und fiel hin, sodass Sauerampfer in einer Pfütze landete.
Nachdem Radion das dumme Pferd gewaltig ausgeschimpft hatte, redete er wieder beruhigend auf den Hengst ein und untersuchte sein Bein. Die Diagnose stimmte ihn nicht gerade heiter.
»Das braucht einen Monat«, sagte er, während er das geschwollene Bein des Tiers verband. »Veterinärmagie ist nicht meine Stärke. Das Pferd hinkt. Wenn wir in der Stadt sind, müssen wir es verkaufen.« Sauerampfer zog einen mageren Beutel aus seiner Tasche, schaute hinein und fügte traurig hinzu: »Und ein neues kaufen. Auch wenn es nur zu einer Schindmähre reichen wird.«

Nun, da der Hengst lahmte, musste Sauerampfer den Rest des Weges zu Fuß zurücklegen. Am Stadttor erkundigte er sich nach der Adresse des nächsten Pferdehändlers sowie des nächsten Schlachters. Das Pferd schnaubte erschrocken.

Zum Glück des Tiers nannte der Pferdehändler selbst nach einem Blick auf das verletzte Bein noch einen guten Preis. Damit entfiel der Besuch beim Schlachter. Sauerampfer verkaufte auch noch den Wagen samt Stute, was ihn wieder heiterer stimmte und die nächste Schenke ansteuern ließ. Nachdem er gegessen und eine Flasche Wein getrunken hatte, war der Zauberer ein rundum zufriedener Mann. Für Trix, Ian und Hallenberry hatte er ein Zimmer gemietet, er selbst brach auf, um das »berühmte Nachtleben Gibeas« kennenzulernen.

Trix sollte es recht sein. Die drei Jungen waren so müde, dass sie auf der Stelle ins Bett fielen. Hallenberry schlief sofort ein, Ian zog immerhin vorher die Stiefel aus. Annette sah kurz zum Fenster in den immer stärker werdenden Regen hinaus und kroch dann in die Tasche von Trix’ Umhang.

Auch Trix blieb nicht mehr lange wach. Im Licht der einzigen Kerze betrachtete er noch das Buch Tiana und kämpfte gegen die Versuchung an, es zu öffnen und zu lesen. Schließlich schob er es unters Kopfkissen, blies die Kerze aus und schlief ein.
Am Morgen fanden sie Radion Sauerampfer im Zimmer vor, obwohl Trix sich genau erinnerte, vor dem Schlafengehen die Tür verriegelt zu haben. Der Zauberer war mürrisch und einsilbig, anscheinend hatte die Bekanntschaft mit dem Nachtleben der Stadt ihm keine rechte Freude gebracht.

»In einer guten Kutsche brauchen wir bis zur Hauptstadt weniger als eine Woche«, erklärte er, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Zu Fuß drei Wochen. Wenn es schneit, noch länger.«

»Hier schneit es nicht oft«, sagte Ian. »Und was sind schon drei Wochen …«
»Zauberer gehen nicht zu Fuß!«, entgegnete Sauerampfer stolz. »Und drei Wochen … für dich mag das nichts sein, aber für mich, der ich nicht mehr jung bin, ist das ein beachtlicher Zeitraum!«
Da Trix wusste, wie viel Sauerampfer gestern für das Pferd und den Wagen erhalten hatte, erkundigte er sich schüchtern: »Reicht unser Geld denn nicht, um eine Kutsche zu mieten?«
»Jetzt nicht mehr«, knurrte der Zauberer.
»Dann müssen wir wohl etwas verdienen«, schlug Trix vor.
»Merk dir eins, mein Junge: Mehr als alles andere auf der Welt … das heißt natürlich, gleich nach dem Zufußgehen … mögen Zauberer es nicht … zu arbeiten!« Das letzte Wort spie Sauerampfer voller Verachtung aus. »Wir Magier lieben es, uns Zaubersprüche auszudenken. Den Wettstreit untereinander! Sogar den Kampf! Aber arbeiten …« Er verstummte kurz, um dann fortzufahren: »Aber uns bleibt wohl nichts anderes übrig. Allerdings habe ich nicht die Absicht, Händlern zu helfen, sich eine goldene Nase zu verdienen. Wasch dich und bring die Umhänge in Ordnung, wir gehen zu einer Audienz zum Baron!« »Mein Umhang ist sauber!«, prahlte Trix.
»Aber meiner nicht!«, fuhr ihn Sauerampfer an. »Und bitte in der Küche um ein Stück Fett, das wickelst du in einen Lappen ein und bringst meine Stiefel auf Hochglanz. Halt, Trix, jetzt fällt mir etwas ein! Kennst du Baron Ismund vielleicht? Oder kannte dein Vater ihn?«
»Ich glaube nicht«, sagte Trix.
»Er soll ein seltsamer Mann sein, dieser Ismund«, erklärte Sauerampfer. »Das Volk liebt ihn. Aber alle versichern, dass sich der Baron auf nichts besser versteht als aufs Glücksspiel. Gut, mach dich jetzt an die Arbeit!«
Trix brauchte nicht lange, um den Umhang des Zauberers zu säubern und die Schuhe mit Speck zu polieren. Sauerampfer wusch sich derweil in einem Zuber und rieb sich mit südlichen Duftwässern ein (wahrscheinlich als Tribut an die Samarschaner Wurzeln des Barons). Ian und Hallenberry sollten sich in ihrer Abwesenheit anständig benehmen, einsame Orte meiden (Sauerampfer deutete an, im nahen Samarschan würden minderjährige, hellhäutige Sklaven sehr geschätzt) und zum Abend in die Schenke zurückkehren. Mehr als alle anderen erschreckte diese Warnung Annette. Sie wollte von Trix wissen, ob sie gebraucht werde, und bot von sich aus an, ein Auge auf die Jungen zu haben.
»Eine Blumenseele«, bemerkte Sauerampfer, als er und Trix die Schenke verließen. »Immer am Schimpfen – aber am Ende macht sie sich doch Sorgen. Magische Wesen tragen eben nicht immer nur das Böse in sich.«
»Glaubt Ihr, dass uns der Baron hilft, Herr Zauberer?«, fragte Trix.
»Was meinst du denn? Was hätte dein Vater gemacht, wenn ein … äh … ein bekannter und respektierter Zauberer zu ihm gekommen wäre, der um eine Kutsche gebeten hätte, weil er in einer wichtigen Angelegenheit zum König in die Hauptstadt muss?«
»Das hätte von seiner Laune abgehangen«, antwortete Trix ehrlich. »Abends und angeheitert hätte er sie ihm vielleicht gegeben. Aber morgens und grummelig – da hätte er den Zauberer weggejagt. Oder ihm irgendein Lügenmärchen aufgetischt.«
»Ismund trinkt keinen Tropfen«, sagte Sauerampfer.
»Dann hängt noch viel von den Hofmagiern ab«, fuhr Trix fort. »Die halten sich ja alle für die Größten. Wenn mein Vater irgendeinem anderen Zauberer etwas gegeben hätte, wäre unser Hofmagier sauer gewesen und hätte auch etwas gewollt.«
»Verstehe«, brummte Sauerampfer.
»Obwohl mein Vater eigentlich gut … war.« Trix verstummte und wandte den Blick ab.
Eine Zeit lang liefen sie schweigend weiter, bis der Zauberer schließlich seine Hand auf Trix’ Schulter legte: »Schäme dich deiner Tränen nicht, mein Schüler. Es ist gut, dass du deine Eltern liebst! Aber wir alle sterben, früher oder später.«
»Bis auf die Vitamanten«, sagte Trix, der sich seiner Schwäche doch schämte.
»Hättest du lieber einen Vater wie Ritter Aradan gehabt?«, fragte Sauerampfer. »Und er war ja noch nicht mal ein wiederbelebter Toter, sondern ein Lich. Außerdem entgeht am Ende eh niemand dem Tod!«
»Was kommt eigentlich nach dem Tod?«, fragte Trix.
»Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen«, antwortete Sauerampfer bereitwillig. »Einige Wissenschaftler behaupten, der Tod sei das allumfassende Nichts. Was für ein Unsinn! In den Sagas der Barbaren heißt es, kühne Krieger bekämen nach dem Tod ein Schloss, jede Menge schöner Frauen, einen Haufen Diener, ein persönliches Schlachtfeld sowie eine unbegrenzte Zahl von Feinden. Wenn du mich fragst, ist das ebenso ermüdend wie langweilig. Die Samarschaner Mystiker glauben daran, dass nach dem Tod die Höchste Gottheit alle Sünden sammelt und an deine Füße hängt, während sie aus den guten Taten ein Seil knüpft. An diesem Seil musst du dann aus der Schlucht der Leiden auf den Berg der Wonnen klettern. Dabei darf die Höchste Gottheit dich anpusten. Ich erinnere mich leider nicht mehr, in welchen Fällen von unten und in welchen von oben …«
Trix, der sich in Fragen der Theologie nicht sonderlich gut auskannte, war so fasziniert von dem Thema, dass die eines Zauberers unwürdigen Tränen von selbst auf seinen Wangen trockneten.
»Unsere Priester glauben, früher hätten siebzehn Götter und Göttinnen die Welt beherrscht, die aber alle nur unterschiedliche Aspekte der Persönlichkeit jener Höchsten Gottheit darstellten. Mach dir mal klar, wie komplex und vielseitig diese sein muss! Es gab einen Gott des Krieges, einen der Medizin, des Wetters und so weiter und so fort. Irgendwann langweilte es die Höchste Gottheit aber, sich von außen mit den Kleinigkeiten der Menschen zu befassen, und sie beschloss, selbst die Gestalt eines Menschen anzunehmen, ein Leben voller Schmerzen und Entbehrungen zu durchleben und auf diese Weise das Menschengeschlecht und die ganze Welt zum Besseren zu verändern.«
»Hat das geklappt?«
»Auch darüber ist man sich nicht ganz einig«, antwortete Sauerampfer seufzend. »Die Orthodoxen glauben, ja. Deshalb würden die Menschen nach dem Tod jetzt auch in eine schöne neue Welt kommen. Die Häretiker dagegen behaupten, dass die Höchste Gottheit nach dieser Erfahrung dermaßen von den Menschen enttäuscht war, dass sie die Welt für immer verlassen und sich der Selbsterkenntnis verschrieben habe. Ihrer Ansicht nach schweben alle Menschen nach dem Tod als unsichtbare Geister um die Höchste Gottheit herum und warten darauf, dass sie mal Zeit für sie habe. Die Medizinmänner in den Bergen sind wiederum davon überzeugt, dass die Gottheit schlafe und unsere Welt ihr Albtraum sei. Nach dem Tod würden die Menschen neu geboren, ohne sich an etwas aus ihrem vergangenen Leben zu erinnern. Gute Menschen werden klug, schön und reich wiedergeboren, schlechte als monsterhafte arme Dummköpfe. Deshalb töten die Bergmenschen normalerweise gleich alle Missgeburten, verkaufen die Armen als Sklaven und verspotten die Dummen, weil diese Menschen in ihrem letzten Leben schlimme Fehler begangen haben.«
»Und wer hat nun recht?«, fragte Trix.
»Wer soll das wissen?« Sauerampfer zuckte mit den Achseln. »Ein paarmal haben große Zauberer versucht, sich mithilfe der Magie mit der Höchsten Gottheit in Verbindung zu setzen und zu erfahren, worin der Sinn des Lebens besteht und was nach dem Tod auf uns wartet. Die Erste Vollversammlung der Zauberer hat zum Beispiel mit vereinten Kräften einen derart kräftigen Fragezauber zustande gebracht, dass sie sogar eine Antwort bekamen.«
»Welche?«
»Ein Geranientopf am Fenster ist mit greller Flamme explodiert und hat drei Tage und drei Nächte gebrannt. Vom Himmel fiel eine Mohrrübe mitten auf den Tisch, um den die Zauberer saßen. Und alle verheirateten Magier bekamen grüne Haare.«
»Und was heißt das?«
»Fünf Zauberer haben den Verstand verloren, als sie versuchten, diese Frage zu beantworten. Die anderen haben daraufhin hübsch die Finger von der Sache gelassen, die Geranie mit einem Eimer Wasser gelöscht, die Mohrrübe gegessen und die Haare gefärbt. Es übersteigt die Kräfte von uns Menschen, zu begreifen, wie und was jene Gottheit denkt, Trix! … Oh, wir sind da.«
Der Palast von Ismund hatte nichts von einem Samarschaner Schloss, es war ein strenger Bau mit Säulen am Eingang und einem gewaltigen Giebeldreieck darüber. Vermutlich unterstrich der Baron damit, dass er trotz fremder Herkunft treu zum Königreich hielt.
Das Tor in den Palast stand offen, die Wache ließ den Zauberer und seinen Schüler passieren, ohne eine einzige Frage zu stellen. Dafür wurde Sauerampfer im Palast sofort von einem älteren, Autorität ausstrahlenden Mann hinter einem großen Schreibtisch angesprochen. Er war recht ungewöhnlich gekleidet, trug Lackschuhe, gerade geschnittene Hosen und einen Gehrock unbequemen Schnitts, beides schwarz, und ein weißes Hemd. Um den Hals hatte er sich – was auch immer das sollte – ein knallrotes Band gebunden, das fast bis zum Bauchnabel hinunterhing. Noch bevor Sauerampfer etwas sagen konnte, stellte er klar: »Ich bin der Unterzeremonienmeister des Barons.« Daraufhin reichte er Sauerampfer ein Pergament. »Wer um eine Audienz ersucht, muss diesen Antrag ausfüllen.«
»Ich bin Zauberer!«
»Sehr schön! Dann könnt Ihr mehr oder weniger fehlerfrei schreiben.«
»Und was wäre, wenn ich überhaupt nicht lesen und schreiben könnte?«, fragte Sauerampfer.
»Dann müsstet Ihr Euch einen Schreiber mieten. Sie sitzen auf der Bank da drüben und warten auf Kundschaft.«
»Und wenn ich kein Geld hätte, um einen Schreiber zu bezahlen?«
»Wollt Ihr damit andeuten«, erwiderte der Unterzeremonienmeister in giftigem Ton, »ein ungebildeter und armer Mann dürfe dem Baron die Zeit stehlen?«
»Verstehe«, sagte der Zauberer mürrisch und schnappte sich das Pergament.
»Dann bekomme ich von Euch einen Silberling für den Antrag«, teilte der Unterzeremonienmeister mit.
Sauerampfer grunzte, zahlte aber anstandslos.
»Ich habe schon davon gehört«, sagte er zu Trix. »Das nennt sich Schreibtischmacht.«
»Schreibtischmacht?«
»Genau. Da werden alle Anliegen entschieden, indem Papiere ausgefüllt werden, die eine besondere Spezies von Menschen durchsieht: die Beamten. Das ist natürlich die reinste Idiotie, ich könnte dem Kerl all das mit Worten fünf Mal schneller erklären. Aber ich wollte schon lange einmal sehen, wie dieses System funktioniert. Gute Güte! Vierunddreißig Fragen!«
Sauerampfer setzte sich an einen abseitsstehenden freien Tisch, sah verächtlich auf die alte, stumpfe Feder, die neben einem Tintenfass mit eingetrockneter Tinte lag, und entnahm einem wildledernen Etui einen wunderschönen Silberstift.
»Mal sehen: Antrag auf Inanspruchnahme einer Audienz. Name und Beiname: Radion Sauerampfer. Frühere Namen und Beinamen, falls vorhanden. Hm. Hatte ich nie. Alter: Na, sagen wir mal … Geschlecht … Machen die sich über mich lustig? Männlich! Früheres Geschlecht, falls vorhanden …« Er sah Trix verblüfft an. »Ich will doch hoffen, dass diese Fragen irgendeinen Sinn haben!« Während er den Antrag weiter ausfüllte, brabbelte er immer wieder vor sich hin: »Name des Vaters. Name der Mutter. Verwandte in Samarschan oder auf den Kristallenen Inseln. Zustand bei der Geburt: Mensch oder ein anderes Wesen. Geplante Attentate gegen Königreich und König. Geplante Attentate gegen den Baron. Wie fürchterlich penibel! Ausfall des ersten Milchzahns im Alter von …« Diese Frage ließ Sauerampfer innehalten. »Bestimmt müssen die auch das wissen«, sagte er. »Aber wozu? Allerdings erinnere ich mich absolut nicht daran! Wann sind deine Milchzähne ausgefallen?«
»Ich weiß es auch nicht mehr«, sagte Trix. »Wir müssten Hallenberry danach fragen.«
»Egal, wir schreiben einfach, mit fünf Jahren«, entschied der Zauberer. »Ich glaube, das müsste in etwa stimmen … In welchem Alter hörte das nächtliche … Nein, die machen sich wirklich über uns lustig!«
Die übrigen Fragen beantwortete Sauerampfer meist schweigend, nur hin und wieder las er noch eine verärgert vor. Bei der letzten Frage – Ziel des Besuchs – trug er das schöne Wort »Audienz« ein und begab sich anschließend zum Unterzeremonienmeister.
»Ihr hättet den Antrag mit Tinte ausfüllen müssen«, klärte der Beamte ihn auf, ohne auf das Papier zu sehen.
»Warum habt Ihr das nicht gleich gesagt?«, blaffte Sauerampfer. »Oder als Ihr gesehen habt, dass ich mit einem Silberstift schreibe?«
»Ich bin nicht verpflichtet, darauf zu achten, womit Ihr schreibt!«, giftete der Unterzeremonienmeister. »Und auch nicht, allen alles zu erklären. Hättet Ihr gefragt, hätte ich geantwortet!«
»Gut«, sagte Sauerampfer und schnappte sich das Pergament. »Das Wort ist das Arbeitsmittel des Magiers, und belanglos ist, womit es geschrieben ist, mit Silberstift, Tinte oder Herzblut! Das Wort trägt in sich den Sinn, der sich nicht durch die Form ändert. So unterwerfen sich die Worte dem Willen des mächtigen Magiers und verändern auf diesem Pergament ihre äußere Form, verwandeln sich aus Silberstiftstrichen in Tintenlinien, aus der allerbesten Tinte, die es auf der Welt gibt, gewonnen aus einem Tiefseetintenfisch und ausgewählten Alaunen.«
Der Beamte spähte mit einem Anflug von Neugier auf das Pergament. Die Zeilen schienen jetzt mit Tinte geschrieben.
»Ein Zauberer also«, murmelte er. »So, so. Und Ziel des Besuchs ist eine Audienz? Das klingt irgendwie seltsam.«
»Warum?«, fragte Sauerampfer.
»Weil … im Antrag gefragt wird, was das Ziel der Audienz ist, und Ihr antwortet, eine Audienz!«
»Habe ich damit gelogen?«
»Das ist doch wohl keine Antwort!«
»Warum nicht? Wenn ich ›Audienz?‹ geschrieben hätte, mit einem Fragezeichen, dann wäre es keine Antwort gewesen, sondern eine Frage. Wenn ich ›Audienz …‹ geschrieben hätte, mit drei Pünktchen, dann wäre es keine Antwort gewesen, sondern eine Überlegung, was das Ziel des Besuchs sein könnte. Aber ich habe ›Audienz‹ geschrieben. Und einen Punkt gesetzt. Und damit eine Antwort gegeben!«
Im Blick des Beamten spiegelte sich ein Anflug von Respekt wider. »Ihr wollt nicht zufällig in den Staatsdienst eintreten?«, fragte er. »Der Baron beabsichtigt, die Praxis der Schreibtischmacht in großem Maßstab im Baronat einzuführen, später sogar im ganzen Königreich. Ich kann Euch versichern, Ihr hättet hier eine Zukunft!«
»Meine Zukunft ist die Magie!«, antwortete Sauerampfer.
»Gewiss doch.« Der Beamte lächelte süffisant. »Denkt trotzdem einmal darüber nach, Ihr seid wie geschaffen für die Schreibtischmacht. Die Vergütung ist übrigens nicht schlecht, darüber hinaus zahlt Ihr in Schenken nur den halben Preis und bekommt in drei Jahren ein Haus aus der Staatskasse. Sobald Ihr weit genug aufgestiegen seid, habt Ihr das Recht auf eine Dienstkutsche mit Glöckchen.«
»Mit Glöckchen?«
»Gewiss doch! Wenn das Glöckchen klingelt, müssen Euch alle Platz machen. Ich versichere Euch, Ihr würdet Eure Entscheidung nicht bereuen!«
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte Sauerampfer giftig.
»Tut das. Und schiebt die Sache nicht auf die lange Bank!«, empfahl der Beamte. »Ihr müsst die Treppe hinauf, dort zeigt Ihr dem Wachposten dieses Schriftstück hier, dann wird man Euch in den Thronsaal vorlassen. Die Audienz beginnt in zehn Minuten.«
Den von Radion ausgefüllten Antrag ließ der Beamte unbesehen in einem Fach seines Schreibtischs verschwinden.
»Und wozu habe ich dann den Antrag ausgefüllt?«, fragte Sauerampfer.
»Der wird zu seiner Zeit geprüft, keine Sorge«, versicherte der Mann lächelnd. »Beeilt Euch jetzt!«
Nachdenklich und ernst stieg Sauerampfer die Treppe hoch. Erst als die Wache ihn in den Thronsaal führte, wurde der Zauberer wieder munter.
Der Thronsaal war wirklich beeindruckend! Er war weiträumig und rund, der elegante Thron von einer Größe, wie es sich für einen Baron ziemt. Vor dem Herrscherstuhl stand eine niedrige Bank, auf dem Boden lag ein prachtvoll gemusterter Teppich, die Kuppeldecke war mit bunten Bildern ausgemalt: mit Pferden, die leichtfüßig durch eine Arena stürmten, mit Kampfhunden, die sich gegenseitig in den Nacken bissen, mit graubärtigen Männern, die sich über schwer zu durchschauende Spiele beugten, und mit Gladiatoren, die mit funkelnden Schwertern um sich schlugen.
»Scheint zu stimmen, was über ihn behauptet wird«, murmelte Sauerampfer, den Kopf in den Nacken gelegt. »Ein Glücksspieler …«
»Ist das schlecht?«, fragte Trix.
»Was? Nein, nein. Das ist nicht schlecht. Alle Zauberer lieben das Glücksspiel …«
Eine der in den Saal führenden Türen wurde aufgerissen und der Herold verkündete feierlich: »Seine Hochwohlgeboren, der edle Baron Ismund, fürsorglicher Schutzherr seines Volkes und treuer Diener der Krone!«
Sauerampfer und Trix verbeugten sich. Schmerzlich schoss Trix der Gedanke durch den Kopf, dass sich eigentlich der Baron Ismund vor ihm, dem Co-Herzog, hätte verbeugen müssen. Er schob den Gedanken jedoch beiseite und führte die Verbeugung sogar etwas tiefer aus, als die Etikette es verlangte.
»Gäste! Wunderbar! Wie ich mich über Gäste freue! Vor allem über Reisende! Vor allem über Zauberer!«, rief der Baron. »So richtet Euch doch auf, richtet Euch auf! Lassen wir die Zeremonien der Vergangenheit, seien wir modern!«
Der Baron war recht klein, füllig und hatte ein frisch rasiertes Gesicht, verschmitzte Augen und ein breites Lächeln, mit dem er gesunde weiße Zähne entblößte. Er war leger angezogen, mit einem gewissen Samarschaner Touch, der sich in weiten Pluderhosen und einem lockeren Hemd darüber zeigte. Vielleicht liebte er aber auch nur weite Kleidung – wie die meisten Dicken.
»Radion Sauerampfer«, stellte sich der Zauberer vor. »Mein Schüler Trix Solier.«
»Solier?«, hakte der Baron nach. »Womöglich ein Verwandter des seligen Co-Herzogs?«
»Sein Sohn«, antwortete der Zauberer.
»Wie furchtbar!«, rief der Baron aus. »Der Thronerbe ist gezwungen, durch die Lande zu streifen und seinen Lebensunterhalt mit Magie zu verdienen! Ist der Zauberer auch gut zu dir, mein Junge?«
Trix nickte.
»Wunderbar«, sagte der Baron. »Was führt Euch zu mir, Herr Sauerampfer?«
»Wir wollen zu Seiner Majestät dem König«, erklärte der Zauberer feierlich.
»Vermutlich, um Gerechtigkeit zu fordern?«, fragte der Baron. »Sehr vernünftig, das kann ich nur gutheißen!« Er rieb sich die Hände und setzte sich auf die Kante des Throns. Nach kurzem Schweigen wollte er wissen: »Aber was führt Euch da zu mir?«
»Die betrüblichen Umstände der Reise«, sagte Sauerampfer. Sofort setzte der Baron eine traurige Miene auf. »Mein Pferd hat sich das Bein gebrochen.«
»Ein Albtraum!«, rief der Baron aus. »Wie leid mir das tut, dass sich Euer Pferd das Bein gebrochen hat!«
»Genauer gesagt nicht gebrochen, sondern verletzt«, präzisierte Sauerampfer. »Dennoch musste ich es verkaufen. Doch der Weg in die Hauptstadt ist lang …«
»Ihr wollt Geld«, folgerte der Baron seufzend. »Geld …« Er erhob sich und lief vor dem Thron auf und ab. »Oh, glaubt nicht, wir hätten kein Geld. Wir haben es, sogar mehr als genug. Und dem berühmten Zauberer Sauerkohl …«
»Sauerampfer!«, platzte der Zauberer heraus.
»Oh, verzeiht!« Der Baron winkte ab. »Botanik war nie meine Stärke. Einem Zauberer zu helfen ist jedenfalls die Pflicht eines jeden Staatsmannes. Schließlich geht Ihr stets bereitwillig auf unsere bescheidenen Bitten ein, tragt gemeinsam mit uns die Last der Staatsangelegenheiten, obendrein völlig selbstlos …«
Sauerampfer trippelte unbehaglich von einem Fuß auf den anderen.
»Schweigt, schweigt!«, rief der Baron aus. »Auf Komplimente bin ich nicht erpicht, das sind nur leere Worte. Ihr müsst verstehen, worum es geht, mein Freund! Es wäre nicht richtig, wenn der Baron sein Geld einfach so hergeben würde. Während die Kinder in den Elendsvierteln hungern, während Handwerksmeister in jämmerlichen Hütten hausen, während die Goldstickerinnen um ein neues Geburtshaus flehen. Was werden sie über ihren Baron sagen, wenn dieser sein Geld mir nichts, dir nichts an Fremde gibt?«
»Ich würde mich glücklich schätzen, Euer Hochwohlgeboren meine … unsere Dienste anzubieten«, presste Sauerampfer hervor.
»Was genau meint Ihr?«, wollte der Baron wissen. »Gold? Unsterblichkeit? Die Wettervorhersage?«
»Das sind Bereiche, in denen die Magie nichts auszurichten vermag«, nuschelte Sauerampfer.
»Wohl wahr! Ihr Magier liebt es, Feuerkugeln zu schleudern, Städte in Asche zu verwandeln und Monster herbeizurufen«, sagte der Baron. »Gut. In dem Fall schlage ich vor, wir spielen um die Hilfe. Soll der Zufall entscheiden!«
»Schach?«, fragte Sauerampfer voller Hoffnung. »Oder Karten?«
»Oh nein!« Der Baron winkte ab und zeigte auf drei Türen, die aus dem Saal herausführten. »Das ist mein Lieblingsspiel«, sagte er. »Hinter diesen Türen … he, Herold, kümmert Euch darum! Hinter zwei Türen hat eine Ziege zu stehen, hinter der dritten eine Kutsche. Gut, keine richtige Kutsche, sondern ein Rad. Bringt das Rad, geschwind! Ihr zeigt auf eine der Türen. Wenn dahinter eine Ziege steht, müsst Ihr ein Jahr bei mir bleiben und mir dienen. Wenn dahinter eine Kutsche ist …«
»Genauer ein Rad«, fiel ihm Sauerampfer ins Wort.
»Kluge Anmerkung!«, lobte der Baron. »Wenn dahinter ein Rad ist, überlasse ich Euch meine private goldene Kutsche samt Garde und Koch mit Lebensmittelvorräten. Ja, ich gebe Euch sogar Wein mit!«
»Ich fürchte, Herr Baron, auf diese Bedingungen …«, setzte Sauerampfer an.
»Meine Güte verwirrt Euch!«, rief der Baron. »Aber natürlich würdet Ihr es nie wagen, mich durch eine Ablehnung zu beleidigen!«
Daraufhin sagte Sauerampfer kein Wort. Der Baron zerfloss in einem strahlenden Lächeln.
Trix schluckte, denn seine Kehle war auf einmal ganz trocken, und trat vor. »Euer Hochwohlgeboren!«
»Nenn mich einfach ›mein Baron‹«, sagte Ismund. »Du und ich, wir sind doch beide von Adel.«
»Mein Baron, überlasst mir die Wahl«, bat Trix. »Für Herrn Sauerampfer ist das eine allzu leichte Probe, es wäre nicht fair von unserer Seite, wenn er die Wahl übernähme.«
Sauerampfer riss die Augen auf, sagte jedoch kein Wort.
»Von mir aus«, willigte der Baron sofort ein. »Aber bedenke eins, junger Mann: keine Magie! Meine Zauberer werden den Verlauf des Spiels genau verfolgen. Ehrlich gesagt beobachten sie uns schon geraume Zeit durch geheime Öffnungen in den Wänden und der Decke.«
»Keine Magie«, versprach Trix. »Aber ich schlage vor, die Bedingungen leicht abzuändern.«
»Wie?«, fragte der Baron neugierig.
»Der blinde Zufall soll unser Spiel nicht entscheiden. Lasst mich zehnmal … nein, neunmal, damit wir ein Unentschieden von vornherein ausschließen, wählen. Wenn ich öfter eine Ziege erwische, dienen wir Euch ein Jahr. Wenn öfter das Rad kommt, kriegen wir die Kutsche.«
»Mit neun Versuchen?« Der Baron brach in schallendes Gelächter aus. »Zu gern, mein Junge!«
Sauerampfer drehte sich Trix zu, drückte ihn an sich, rang sich ein Lächeln ab und flüsterte ihm ins Ohr: »Du hast den Verstand verloren! Unsere Chancen, zu gewinnen, stehen ohnehin nur eins zu drei! Bei neun Versuchen verlieren wir garantiert! Das ist elementare Mathematik!«
»Dankt mir nicht, mein Lehrer!«, sagte Trix laut und befreite sich aus den kräftigen Armen Sauerampfers. »Und noch ein Vorschlag, Herr Ismund. Wenn ich mir eine Tür ausgesucht habe, bleiben noch zwei Türen übrig, stimmt’s?«
»Ja.«
»Könnte nicht eine dieser beiden Türen geöffnet werden? Und zwar eine, hinter der eine Ziege ist. Danach darf ich noch einmal überlegen und meine Wahl unter Umständen ändern.«
»Was soll das bringen?«, fragte Ismund.
Trix antwortete nicht.
»Also …« Der Baron dachte nach. »Du führst doch was im Schilde … Genau bedacht … Ha, du bist mir ein Schlauberger! Wenn du eine von drei Türen wählst, stehen deine Chancen eins zu drei. Aber wenn ich eine Tür öffne, hinter der eine Ziege steht, dann stehen deine Chancen eins zu zwei. Das heißt, unsere Chancen sind gleich. Du bist wahrlich ein Junge der Zahl!« Er lachte.
Trix schwieg bescheiden.
»Gut«, sagte der Baron, »ich nehme deinen Vorschlag an. Diese Kenntnisse der Arithmetik gehören belohnt. Aber vielleicht sollen wir uns nicht mehr Mühe machen als nötig. Warum nehmen wir nicht gleich nur zwei Türen? Eine Ziege und eine Kutsche.«
»Machen wir uns ruhig ein bisschen Mühe«, erwiderte Trix.
»Das gefällt mir«, sagte der Baron. »Ein echter Spieler strebt nicht nach schnellem Gewinn! Im Spiel wie in der Liebe ist schließlich nicht das Tempo entscheidend!«
Der Herold trat an den Baron heran und flüsterte ihm etwas zu.
»Man hat ein Rad abmontiert und hergebracht.« Der Baron rieb sich die Hände. »Wohlan! Fangen wir an!«
»Du hast trotzdem den Verstand verloren«, raunte Sauerampfer. »Unsere Chancen stehen eins zu zwei. Wir gehen besser zu Fuß.«
»Vertraut mir, Herr Zauberer!«, flüsterte Trix.
Sauerampfer seufzte.
»Nun denn! Die Bedingungen sind klar!«, sagte Ismund fröhlich. »Alles ist absolut ehrlich! Keine fiesen Tricks! Pan oder Pleite, Goldkutsche oder Geiß! Ach, ich liebe solche Spiele! Wähle!«
»Die!« Trix zeigte auf die linke Tür.
»Herrlich!«, sagte der Baron. »Mal sehen …«
Er ging zu den Türen, schaute hinter jede von ihnen und öffnete die mittlere. »Lässt du die Tür oder wechselst du?«, fragte er.
»Ich wechsle«, sagte Trix. »Die rechte!«
Der Baron öffnete die rechte Tür. Dahinter lag das Rad. »Glück gehabt!«, sagte er. »Doch hättest du dein Glück nicht herausfordern und es bei einem Spiel belassen sollen. He, tauscht die Plätze!«
Hinter den geschlossenen Türen war ein Rumoren zu hören.
»Welche Tür nimmst du?«
»Wieder die linke«, sagte Trix.
Und wieder schaute der Baron hinter alle Türen, um dann die rechte zu öffnen.
»Wechsel auf die mittlere«, sagte Trix.
Dahinter lag das Rad.
»Du hast Glück«, sagte der Baron.
Nachdem der Baron zum dritten Mal verloren hatte, dachte er kurz nach. »Du liest in meinem Gesicht«, sagte er. »Ich habe schon von geschickten Physiognomikern gehört!«
»Dann verbindet mir die Augen, mein Baron!«, schlug Trix vor.
Der Baron verband Trix eigenhändig die Augen, danach begann das Spiel von Neuem.
»Wechsel«, antwortete Trix ein ums andere Mal. »Wechsel. Und noch mal. Und auch diesmal!«
Als es sechs zu drei für Trix stand, rief der Baron den Herold. »Bring Wein«, befahl er. »Uns stehen lange und schwierige Spiele bevor.«
»Aber wir haben doch schon neun …«, setzte Trix an.
»Bin ich dir entgegengekommen?«, ereiferte sich der Baron. »Eben! Also komm du auch mir jetzt entgegen! Wir starten eine Serie von hundert Versuchen.«
Hinter einer der Türen stieß jemand einen schweren Seufzer aus.
»Schon verstanden! Gras für die Ziegen! Die Peitsche für die Diener!«, brüllte der Baron. »Nein, tauscht die Diener aus! Und sorgt nach jedem zehnten Versuch für neue!«
Nach weiteren zwanzig Versuchen rief Ismund seine Zauberer und befahl ihnen, Sauerampfer und Trix genau im Auge zu behalten. (Nebenbei bemerkt: Der Unglauben auf Sauerampfers Gesicht war völlig echt.)
»Und wieder Wechsel!«, rief Trix zum hundertsten Mal aus.
»Siebenundsechzig Mal das Rad, dreiunddreißig Mal die Ziege«, verkündete Radion Sauerampfer das Ergebnis. »Wir haben gewonnen, Euer Hochwohlgeboren!«
Ismund versank in tiefe Grübeleien. »Das kann nicht sein«, sagte er schließlich. »Und trotzdem ist es geschehen. Gut. Wie? Ich habe ein Spiel vorgeschlagen, wobei ich eine Chance von drei zu eins auf den Sieg hatte. Das verstehe ich. Der Junge …«
»Nennt mich einfach ›junger Soufflöticus‹«, sagte Trix.
»Der junge Soufflöticus«, griff Ismund die Anrede auf, »hat einen anderen Ablauf vorgeschlagen. Nachdem er eine Tür gewählt hatte, öffnete ich eine der beiden anderen. Und zwar unbedingt eine mit einer Ziege dahinter. Er selbst erhält die Möglichkeit, seine Wahl zu ändern. Damit hat der junge Soufflöticus für Chancengleichheit gesorgt. Er musste sich nun zwischen einer Tür mit Ziege dahinter und einer mit Kutsche dahinter entscheiden! Stimmt’s?«
Trix zuckte bloß die Achseln.
»Aber dann hätte die Kutsche fünfzig Mal kommen müssen!«, rief der Baron. »Und die Ziege auch! Die Chancen standen eins zu eins! Aber irgendwie hast du es geschafft, dass sie zwei zu eins für dich standen!«
Trix senkte den Blick.
»Du hast nicht gezaubert?«, fragte der Baron hoffnungsvoll. »Gib es zu, ja! Wenn du gezaubert hast, verzeihe ich alles. Dann gebe ich Euch eine Kutsche und lasse Euch ziehen. Ich packe sogar noch hundert Goldstücke drauf!«
»Sag, dass du gezaubert hast«, riet ihm Sauerampfer.
»Es gehört sich nicht zu lügen«, erwiderte Trix. »Nein, Zauberei war nicht im Spiel.«
»Das widerspricht jeder Arithmetik!« Der Baron reckte die Arme zum Himmel, genauer zur Decke. »Das kann nicht sein!«
»Mäh, mäh«, blökte eine müde Ziege.
Plötzlich riss Ismund die Augen auf und schlug sich gegen die Stirn. »Dass ich darauf nicht gleich gekommen bin! Bringt die Ziegen weg! Bereitet die Kutsche vor! Der Koch soll Reiseproviant zusammenstellen und sich für die Abfahrt in die Hauptstadt bereithalten!«
»Worauf seid Ihr nicht gleich gekommen?«, fragte Trix erstaunt.
»Du bist einfach ein Glückskind!«, antwortete der Baron strahlend. »Du bist vermutlich unter einem Glücksstern geboren. Oder in einer Nacht, als über die Scheibe des Vollmonds der Schweif eines Kometen wanderte! Anders kann es nicht sein! Ich habe von solchen wie dir gehört. Ihr habt immer Glück! Wie kommt es denn, dass du den Putsch überlebt hast? Und nicht durch Erzminen kriechst, sondern Zauberschüler bist? Eben! Du bist ein geborener Glückspilz! Ein Schoßkind des Glücks, oder wie immer man euch nennt!«
Trix breitete die Arme aus.
»Du hast mich schön für meine Selbstsicherheit bestraft«, sagte der Baron in völlig aufgeräumter Stimmung. »Was für ein Schelm du bist! Aber ich möchte nicht mit dir tauschen. Das raubt dir doch jedes Vergnügen beim Glücksspiel! Nimm das! Das ist von mir für dich! Das brauchst du Sauerkraut nicht zu geben!« In Trix’ Hand wanderten fünf Goldstücke. »Aber von heute an ist dir jede Form von Spiel in meinem Baronat verboten!« Ismund drohte ihm mit dem Finger. »Keine Karten, keine Brettspiele! Nichts! Kommt am Abend wieder, dann steht die Kutsche bereit!«
Kaum hatten Trix und Sauerampfer den Palast des Barons verlassen, als der Zauberer Trix bei der Schulter packte und in eine Gasse lenkte.
»Bitte!« Trix kramte beflissen in seiner Tasche nach den Münzen.
»Die gehören dir, du hast sie ehrlich verdient«, sagte der Zauberer. »Aber du hättest mich beinahe ins Grab gebracht! Ich glaube nicht an Glückspilze oder Schoßkinder des Glücks! Gib zu, dass du irgendwelche Taschenspielertricks angewandt hast!«
»Hab ich nicht!« Trix war sogar ein wenig beleidigt. »Das ist pure Arithmetik!«
»Nimm zur Kenntnis, dass ich ebenfalls ein Mann der Zahl bin«, sagte Sauerampfer. »Hinter einer Tür ist eine Ziege, hinter der anderen eine Kutsche. Die Chancen stehen eins zu eins.«
»Tun sie nicht!«, rief Trix. »Sowohl der Baron wie auch Ihr vergesst die dritte Tür! Die, die er geöffnet hat!«
»Was hat die damit zu tun?«, wunderte sich Sauerampfer. »Die ist längst aus dem Spiel! Wir wählen nur noch zwischen zwei Türen.«
»Nein, zwischen dreien!«, blieb Trix stur. »Wir haben zwei Türen, von denen eine offen ist. Was hinter der anderen ist, wissen wir nicht. Wir haben aber auch noch die dritte Tür, die ich ausgewählt habe und wo wir auch nicht wissen, was dahinter ist. Wenn ich also die Tür wechsel, stehen unsere Chancen zwei zu eins! So ist das!«
»Mach mich nicht wuschig!«, polterte Sauerampfer. »Ich bin kein Idiot! Was hat die offene Tür damit zu tun, wenn hinter der eh eine Ziege ist! Es bleiben noch zwei Türen! Hinter einer ist eine Ziege, hinter der anderen eine Kutsche.
Du wählst zwischen diesen beiden. Die Chancen stehen eins zu eins!«
»Nein, man muss die offene Tür mitzählen. Das hat mir einer von Papas Dienern erzählt. Dabei ging es natürlich nicht um Türen. Er hat da immer ein Spiel mit Fingerhüten gemacht. Drei Fingerhüte, unter einem ist eine Kugel.«
»Sicher, Hütchen-Kügelchen, das ist ein altes und wenig geachtetes Spiel aus Samarschan«, sagte Sauerampfer. »Bei dem kommt es einzig und allein auf Fingerfertigkeit an.«
»Das tut es nicht! Sondern auf Mathematik! Jemand zeigt auf einen Fingerhut. Der Hütchenspieler hebt eines der beiden anderen Hütchen hoch. Wenn da die Kugel ist, hat er gewonnen! Wenn da nichts ist, fragt er, ob der andere seine Wahl ändern will. Niemand ändert sie, denn alle denken, dass es keinen Unterschied gibt. Aber den gibt es!«
»Aber das kann nicht sein! Zwei Türen …«
»Nicht zwei, drei!« Trix geriet so in Fahrt, dass er Sauerampfer anschrie. Zum Glück achtete dieser im Eifer des Gefechts nicht darauf. »Drei! Und hinter einer ist die Kugel!«
»Welche Kugel?«
»Das Kügelchen! Nein! Die Kugel ist unter dem Fingerhut und hinter der Tür ist der Karren!«
»Die Kutsche!«
»Von mir aus!«
»Nein, nicht die Kutsche, sondern das Rad!«, korrigierte sich Sauerampfer. »Du bringst mich aus dem Konzept!«
»Ob Kutsche oder Rad, ist doch egal!«
»Genau! Warum hast du also gewonnen?«
»Weil ich von drei Türen zwei ausgewählt habe und der dumme Baron nur eine! Deshalb hatte ich die besseren Chancen!«
»Warum?«, jammerte Sauerampfer. »Du wählst doch nur aus zwei Türen! Die dritte ist ja schon offen! Hinter einer Tür ist ein Rad, hinter der anderen eine Ziege. Sie verändern ihren Platz nicht, nachdem du deine Wahl getroffen hast. Du weißt nicht, wo was ist. Die Chancen stehen eins zu eins! Aber du hast in zwei von drei Fällen gewonnen! Warum?«
»Wegen der Arithmetik!«
Sauerampfer wandte sich ab und stapfte Richtung Schenke davon. Trix folgte ihm bedrückt. Er hatte ehrlich versucht, Sauerampfer zu erklären, was des Pudels Kern war, aber der hatte ihn einfach nicht verstanden. Ein Mann des Wortes war eben nicht immer auch einer der Zahl.
Als sie zu ihrem Quartier zurückkamen, schnappte sich Sauerampfer wortlos drei tönerne Bierkrüge vom Tresen, bestellte zwei Flaschen Bier und eine Flasche starken Schnaps. Im Zimmer goss er in alle drei Krüge etwas ein und schob sie mit geschlossenen Augen auf dem Tisch hin und her. Dann wies er mit listigem Grinsen auf einen der Krüge.
»Ich glaube, hier ist Schnaps drin!«, sagte er. »Trix, nimm einen der Krüge mit Bier weg!«
Trix schnupperte an allen Krügen und nahm einen weg.
»Ein einfaches und klares Experiment«, erklärte Sauerampfer. »Du behauptest also, wenn ich meine Wahl ändere, kriege ich Schnaps?«
»Die Chancen dafür stehen doppelt so gut«, sagte Trix.
Sauerampfer trank einen Schluck aus dem neu gewählten Krug. Er runzelte die Stirn und befahl, das Experiment zu wiederholen. Erst nach dem zehnten Versuch gab er sich geschlagen.
»Starken Schnaps und Bier in diesem Verhältnis zu mischen schadet der Gesundheit«, sagte er. »Deine Prognose stimmt! Aber ich verstehe nicht, warum. Weck mich in zwei Stunden«, sagte er, stand auf und ging zu Bett. »Oder besser in drei. Schließlich haben wir es hier mit einem schrecklichen Geheimnis zu tun, das den Verstand völlig benebelt.«
»Das ist nur Arithmetik«, sagte Trix stur. Aber Sauerampfer hörte ihn schon nicht mehr. Sieben ordentliche Schluck Schnaps und drei Schluck Bier verlangten das Ihrige: Der erschöpfte und erschütterte Zauberer war fest eingeschlafen.
Trix nahm sich einen der nicht geleerten Bierkrüge und setzte sich ans Fenster.

5. Kapitel